Text: Georg Büchner / Originalquellen - Regie: Zeha Schröder - Musik: Daniel Ableev - Mit: Helge Salnikau, Zeha Schröder, Anke Winterhoff - Ort: Zwinger, Promenade (Höhe Kanalstr.) - Dauer: ca. 95 Minuten - Premiere: 07.07.2011
Neben den rein dokumentarischen Stoffen haben wir in den vergangenen Jahren immer wieder auch mit dokumentarisch-literarischen „Mischkonzepten“ experimentiert, die authentisches Quellenmaterial mit fiktiven (Autoren-)Texten kombiniert und gebrochen haben. Die Reihe reicht von "Hauser K" (2001) über "Mocha Dick" (2006) bis zur "Beduinin" (2010) und wird jetzt mit einer Spurensuche in den Quellen zu Georg Büchners "Woyzeck" fortgeführt.
Der „Woyzeck“ gilt als einer der wichtigsten, aber problematischsten Theatertexte deutscher Sprache. Denn bei seinem Tod hat der 23-jährige Dichter kein fertiges Skript hinterlassen, sondern nur eine Reihe von Entwicklungsstufen. So existieren von manchen Szenen bis zu drei verschiedene Entwürfe, während andere Teile des Dramas – insbesondere der Schluss – gar nicht mehr zur Ausführung gelangten.
Die meisten Inszenierungen arrangieren sich notgedrungen mit den vorhandenen Texteditionen und tüfteln allenfalls an der (nicht eindeutig festgelegten) Reihenfolge der Szenen herum. Freuynde + Gaesdte beschreiten einen anderen Weg: Regisseur Zeha Schröder und seine beiden (Mit-)Darsteller Helge Salnikau und Anke Winterhoff haben für ihre Fassung des berühmten Dramas ausführlich in den Quellen gestöbert.
Und das in doppelter Hinsicht. Zum einen haben sie die hinterlassenen Handschriften(!) Büchners unter die Lupe genommen, um aus ihnen eine eigene, völlig neue Version des Dramas zu montieren. Zum anderen hat das Trio dokumentarisches Material eingebunden, das sich auf die historische Vorlage des Büchnerstückes bezieht: Gerichtsakten, Zeitzeugnisse und Gutachten über den Mörder Woyzeck, dessen Zurechnungsfähigkeit bis heute kontrovers diskutiert wird.
Der "Fall Woyzeck" war in den 1820ern in aller Munde, und deshalb ist der Hintergrund des berühmten Dramenfragments gut dokumentiert: Am 21. Juni 1821 ersticht der Soldat Johann Christian Woyzeck seine Geliebte mit dem irritierend ähnlichen Namen Johanna Christiane Woost aus Eifersucht und/oder Verfolgungswahn. Der dreijährige Prozess und die Kontroverse der Gutachter bzgl. der (Un-)Zurechnungsfähigkeit des Täters stellen eine hochspannende Ergänzung zu dem unvollendeten Stücktext dar.
So schließt „Die Akte Woyzeck“ eine Lücke im Drama, die durch Büchners frühen Tod begründet ist: Zwar hat der Autor den Schlussteil des Stückes noch mit der Ortsangabe „Gerichtssaal“ eingeleitet, doch die geplante Ausarbeitung der Verhandlung und Hinrichtung des Täters bricht nach wenigen Zeilen ab. Genau hier setzt die Inszenierung von F+G an.
Die Premiere des literarisch-dokumentarischen Crossovers findet im Zwinger statt. In dem mittelalterlichen Festungsturm an der Promenade hat F+G bereits zwei Dokudramen mit großem Erfolg präsentiert – den „Totmacher“ (1999) und „Morbus Inês“ (2007). Für ihr drittes Stück in dem stimmungsvollen Gemäuer versprechen die Theatermacher neben dem faszinierenden Quellenmaterial auch eine raumgreifende Inszenierung, die erstmals das gesamte Gebäude vom Gewölbe bis aufs Dach einbindet. Die Szenen werden verbunden und untermalt durch einen Original-Soundtrack des sibirischstämmigen Tonkünstlers Daniel Ableev. Seine skurrilen, elektrisierenden Kompositionen zeichnen die zerrissene Innenwelt Woyzecks in kongenialen Klangbildern nach.