Teile vom Ganzen

Texte: Lebenszeugnisse von Bewohnern St.Kildas - Regie und Film: Zeha Schröder - Musik: Daniel Ableev - Mit: Frank Dukowski, Zeha Schröder, Johan Schüling, Irmhild Willenbrink und Anke Winterhoff - Ort: Erlöserkirche, Friedrichstr. 10 - Dauer: ca. 65 Minuten - - Uraufführung: 13.11.2012
"Ich hatte das große Glück, zu einer Gruppe von Menschen zu gehören, die ihr eigenes Dasein als Teil eines Ganzen auffassten – und nicht das Ganze als Zusammenschluss von Einzelnen." (Calum McDonald)

"Ich kann, ohne zu zögern, das Wort nennen, das den Leuten von St. Kilda, jung wie alt, am ehesten gerecht wird: Verbundenheit." (Donald John Gillies)


Wenn man die Lebenserinnerungen der letzten "Hiortach", der Bewohner der Inselgruppe St. Kilda, liest oder auch die faszinierten Reiseberichte auswärtiger Besucher, dann fragt man sich manchmal, ob man auf ein versunkenes, verlorenes Paradies gestoßen ist. Eine gar nicht so kleine Gemeinschaft von Menschen, die jahrtausendelang ohne Geld und Waffen, ohne Kriminalität und Besitz, ohne Herrschaft und Autorität existiert? Die in allmorgendlichen Treffen basisdemokratisch entscheidet, wer welche Arbeiten übernimmt? Die in Einklang mit Gott und der Natur lebt und jede Jagdbeute, jedes angeschwemmte Stück Treibholz nach den Regeln der Fairness und Bedürftigkeit untereinander aufteilt? Und das nicht irgendwo im Regenwald oder im australischen Busch, sondern mitten in Europa?

Zumindest der letzte Punkt ist nur halbwahr. Immerhin liegt St. Kilda einige Dutzend Seemeilen vor der schottischen Küste, schon beinah auf dem Weg nach New York, und wurde nicht umsonst oft als "Eiland am Ende der Welt" bezeichnet. Aber gerade diese Abgeschiedenheit war es, die den Zusammenhalt und Fortbestand dieser eigentümlichen Mikrogesellschaft begünstigt hat. Jedenfalls so lange, bis die Verlockungen der Moderne auch da draußen im Atlantik wirksam wurden, in Form von Touristen der ersten Stunde, von Weltkriegssoldaten und Missionaren. Sie alle brachten Geschichten und Dinge mit, die von einem reicheren, bequemeren, schillernderen Leben kündeten - und die den Insulanern nach und nach das Gefühl der eigenen Minderwertigkeit einflößten. Konsequenz: Gerade die Jungen und Kräftigen wanderten nach und nach ab; 1930 wurden die letzten 36 Bewohner auf eigenen Wunsch von der Hauptinsel Hirta evakuiert...

82 Jahre später haben wir den verlassenen Archipel besucht. Nach vierstündiger Überfahrt in Schnellbooten durften wir eine Welt betreten, die so atemberaubend schön wie verstörend karg ist. Aus den Bild- und Tondokumenten dieser Recherche sowie den authentischen Zeugnissen der letzten "Kildaner" hat das fünfköpfige Ensemble um Regisseur Zeha Schröder einen rund einstündigen Theaterabend konzipiert, der nicht ohne Grund den Untertitel "Abgesang auf eine Insel" trägt. In einer fast konzertanten Form werden die historischen Texte den modernen Filmen und Klangwelten gegenüber gestellt. Aus vielen einzelnen Puzzleteilen entsteht nach und nach das Bild einer rauen, schlichten, aber herzlichen und fürsorglichen Gemeinschaft, die bis ins 20. Jahrhundert hinein einen Gegenentwurf zur "europäischen Moderne" gelebt hat - mit Erfolg.

Ein Theaterstück als detektivische Spurensuche und respektvolle Totenandacht. An einem Ort, der sakrale Ruhe und maritimes Ambiente miteinander verbindet: dem schiffsbauchartigen Innenraum der denkmalgeschützten Erlöserkirche, nur einen Steinwurf von Münsters Hauptbahnhof entfernt.